Von Michael Hartl
Wo sitzen meine Feinde? Im Irak? In den Fernsehsendern? In den Abtreibungskliniken? Irgendwo im Internet? Und DIE soll ich lieben? Jesus, wie meinst Du das?
Vielleicht meint er es so wie mit dem Nächsten im Gleichnis vom barmherzigen Samariter? Jemand, der mir fern steht, wird mir zum Nächsten in einer bestimmten Situation, und da soll ich ihn lieben.
So kann mir auch jemand, der mir nahe steht, zum Feind werden in einer bestimmten Situation, und da soll ich ihn lieben. Das kann eine Alltagssituation sein: eine Meinungsverschiedenheit, eine Enttäuschung, ein Missverständnis kann in mir feindselige Gefühle erzeugen und Gedanken wie „typisch für dich“ oder „du änderst dich doch nie“ oder „leider kannst du mir da nicht ganz folgen“. Und meine Gefühle können sich abwenden, aus der Nähe kann Distanz werden, Kälte, das Gefühl der Überlegenheit.
Und wie sähe die Liebe aus in diesem Fall?
Gedanken wie „das hast du sicher nicht so gemeint“ oder „das war dir jetzt wohl nicht bewusst“ oder „du stehst irgendwie unter Druck“ und „in Wirklichkeit bist du meine geliebte Frau, Schwester,Tochter, mein geliebter Mann, Sohn, mein Herzensfreund“. Oder wir denken an dieses erschütternde Wort Jesu bei seiner Kreuzigung: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Man kann das auf den Alltag herunter brechen. Das meiste Böse geschieht, ohne dass es jemand bewusst will. Und es wird entschärft durch die sofortige Vergebung, die Vollendung der Liebe, auch und besonders gegenüber den Feinden. Denn sie bleiben keine Feinde, wenn sie das spüren. Daher ist die Feindesliebe keine unerreichbare Tugend, sondern die Nächstenliebe ganz zu Ende gedacht, in jede Situation hinein.